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BGH-Urteil: Anfechtung von Sozialversicherungszahlungen im Dreimonatszeitraum vor Insolvenz – auch „freundliche“ Mahnungen begründen Inkongruenz

Mit seinem Urteil IX ZR 80/24 vom 22. Mai 2025 stärkt der Bundesgerichtshof (BGH) die Anfechtungsmöglichkeiten gegenüber Sozialversicherungsträgern im Zeitraum von drei Monaten vor Eingang des Insolvenzantrags. Der BGH stellt darin klar, dass Leistungen eines Schuldners an eine Krankenkasse gemäß § 131 InsO auch dann inkongruent sein können, wenn für den Schuldner trotz defensiver Formulierung erwartbar war, dass bei Nichtzahlung unmittelbar Zwangsvollstreckung droht.

Im vorangegangenen Rechtsstreit hatte das Insolvenzgericht am 1. August 2020 nach einem eigenen Insolvenzantrag der Schuldnerin, einer GmbH, ein Insolvenzverfahren über das Vermögen der GmbH eröffnet. Kläger im Verfahren ist der gerichtlich bestellte Insolvenzverwalter.

Die Schuldnerin war mit der Zahlung der Sozialversicherungsbeiträge für den Februar 2020 bei der beklagten Krankenkasse in Verzug geraten. Daraufhin erließ die Beklagte im März einen Beitragsbescheid, in dem sie die Schuldnerin aufforderte, die ausstehenden Beiträge in Höhe von knapp 30.000 Euro spätestens zum 12. März 2020 zu begleichen. In dem Schreiben wurde darauf hingewiesen, dass bei Nichtzahlung eine Zwangsvollstreckung eingeleitet werden müsse, was mit weiteren Kosten verbunden sei. Die Aufforderung erfolgte durch eine standardmäßige Mitteilung, die Schuldnerin beglich daraufhin am 17. März 2020 den Zahlungsrückstand zuzüglich Verzugszinsen.

Der Kläger klagte in seiner Funktion als Insolvenzverwalter nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens gegen die Beklagte und forderte die Rückerstattung des gezahlten Betrags nebst Zinsen an die Insolvenzmasse. Er begründete dies mit einer sogenannten Deckungsanfechtung wegen Inkongruenz, da die Zahlung unter dem Druck einer unmittelbar bevorstehenden Zwangsvollstreckung erfolgt sei.

Das Landgericht hat die Klage abgewiesen, auch die Berufung des Klägers wurde vom Oberlandesgericht mit dem Argument zurückgewiesen, dass das Schreiben der Beklagten keine Inkongruenz herbeigeführt habe, da es lediglich als einfache Mahnung zu verstehen sei und keinen unmittelbaren Vollstreckungsdruck erzeugt habe. Das im hiesigen Urteil zitierte Schreiben mit Betreff „Bitte denken Sie an Ihre Beitragszahlung“ sei als freundliche Zahlungserinnerung zu verstehen gewesen, auch die Tonalität des Schreibens sei „in einem freundlichen, fast nachsichtigen Ton verfasst“. Der Bundesgerichtshof (BGH) sieht dies jedoch anders und hat die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Dies wird im Urteil damit begründet, dass die Zahlung der Schuldnerin unter unmittelbarem Vollstreckungsdruck erfolgt sei und daher als inkongruent einzustufen sei. Die „freundliche“ Formulierung des Bescheids ändere nichts an der damit geschaffenen Drucksituation.

Hierfür reiche lt. gängiger Rechtsprechung bereits eine Formulierung, die eine Zwangsvollstreckung nicht ausdrücklich androht, ein derart geplantes Vorgehen aber „zwischen den Zeilen“ deutlich werden lässt. Objektiv musste die Schuldnerin aufgrund der im Bescheid gesetzten Zahlungsfrist in Verbindung mit der Androhung, die Beiträge andernfalls im Wege der Zwangsvollstreckung einzutreiben, daher damit rechnen, dass die Beklagte nach Fristablauf unverzüglich und ohne weitere Mahnung oder Zwischenschritte die Zwangsvollstreckung veranlassen würde.

Ein anderes Verständnis würde es öffentlich-rechtlichen Gläubigern wie der beklagten Krankenkasse mit eigener Vollstreckungskompetenz und insbesondere gerade daraus resultierendem Drohpotential im Ergebnis ermöglichen, noch in der Krise eines Schuldners Forderungen entgegen § 1 InsO zu Lasten der Gläubigergesamtheit vollständig durchzusetzen, indem sie den mit entsprechenden Formulierungen aufgebauten Vollstreckungsdruck nutzen, was der in § 131 InsO formulierten erleichterten Anfechtung bei verdächtigen Zahlungen entgegenstehen würde.

Dr. Holger-René Bruckhoff, Insolvenzverwalter und Fachanwalt für Insolvenz- und Sanierungsrecht, verweist darauf, dass der BGH die objektive Sicht des betroffenen Schuldners im Hinblick auf ein Mahnschreiben in den Mittelpunkt stellt: „Als Insolvenzverwalter sollte man auch vermeintlich defensiv formulierte Mahnungen oder Zahlungsaufforderungen daraufhin überprüfen, welchen Eindruck sie beim Schuldner erzeugen können, der sich schon durch den bloßen Zahlungsverzug in einer Drucksituation befindet.“

Quellenhinweis:
Bundesgerichtshof, Urteil vom 22.05.2025 – IX ZR 80/24